“Man sollte nicht mir,
sondern all diesen grossartigen Leuten hier danken; ich komme einfach nur
dazu”, meint Martha Argerich, und rückt ein paar Strähnen ihrer berühmten
grauen Mähne zurecht, während sie im Gedränge der Festivalgäste auf den
Künstler des Abends wartet.
Eher dafür
bekannt, ihr Programm in allerletzter Minute umzustellen, scheint dieser
Ausdruck von Bescheidenheit unerwartet. Und dann nickt sie in Richtung eines
schlanken, etwas angespannt wirkenden Herrn, der jede ihrer Bewegungen aus
respektvoller Distanz aufs Genaueste beobachtet.
Der
Blickkontakt zwischen den beiden bedarf keiner Worte, denn der Herr ist niemand
anders als Carlo Piccardi, consigliere
und einer der Pfeiler des Festivals; immer bereit, auf Argerichs Wünsche
einzugehen und anbahnende Katastrophen abzuwenden, steht er der künstlerischen
Leiterin des Luganer Festivals zur Seite.
Foto:
Martha Argerich - Copertina
Es ist ein Tanz, der von grosser Nähe und gegenseitigem Verständnis spricht, und der sich beim Progetto Martha Argerich-Festival in diesen Juni-Wochen ständig wiederholt.
Verliebt
in die Idee, Kammermusik und Martha Argerich in seine Region und somit sein
Leben zu bringen, hatte der frühere Radio della Svizzera Italiana - Direktor und Musikologist das Festival mit
ins Leben gerufen. Initiator war der damailge EMI-Aufnahmeleiter und
Fernsehproduzent Jurg Grand (Spitzname ’Abdul’), der sich die Frage gestellt
hatte, warum seine grossartige Freundin, die Pianistin Martha Argerich, ein (heute
nicht mehr bestehendes) Festival in Buenos Aires und eines im japanischen Beppu
leitete, aber keines in Europa.
“Als
Direktor der Kulturabteilung eines Radiosenders hatte ich keinerlei Erfahrung
mit Live-Konzerten. Am Ende war ich völlig erschöpft, und Martha and Jurg
übernahmen die Zügel. Morgens fanden
Konzerte in einer Kirche statt, abends im Sender, und die 32 Künstler mussten
abends auch noch proben. Heute legen wir zwischen Proben und Aufnahmen einen
freien Tag ein; dafür haben wir inzwischen 82 Musiker, und die Konzerte
verteilen sich über drei Wochen; viele Konzerte werden live aufgenommen und
gesendet, oder auch live gestreamed.”
Im zweiten
Jahr war Piccardi besser vorbereitet: “Ich war nun mit den Problemen vertraut,
die eine Produktion dieser Grössenordnung mit sich bringt, aber dann kam es zu
einer Katastrophe: Jurg, der Gründer des Festivals, starb plötzlich. Martha war
zu der Zeit in Buenos Aires, und wir mussten schnell entscheiden, ob wir
weitermachen. Wir entschieden uns, zumindest die bereits geplante Saison
durchzuführen”, sagt Piccardi. Was erschwerend dazu kam, war , dass … “vom
Klavier abgesehen, Martha nicht sehr systhematisch denkt. Sie ist oft
ambivalent, und bleibt vage, wenn man sie etwas fragt. Es ist immer ein
‘vielleicht’.”
Die Offenheit eines ‘vielleicht’ kommt Argerich bei ihrer Talentsuche möglicherweise zugute. Empfehlungen von Freunden, auf deren Urteil sie vertraut, sowie ihre Teilnahme als Jurymitglied internationaler Wettbewerbe bringen sie ständig in Kontakt mit vielversprechenden neuen Künstlern.
Foto: Andrej Grilc
“Sie
vertraut auch meinem Urteil, und einige der jungen Künstler, die beim Festival
aufgetreten sind, waren von mir vorgeschlagen worden; aber sie ist auch sehr
spontan und entdeckt manchmal Künstler auf YouTube”, erläutert Piccardi, der
sich hauptsächlich um das Programm kümmert.
Meist ist
es schon sehr spät, wenn Piccardi die legendäre Pianistin nach ihrer nächtlichen
Programmvorbereitung nach Hause bringt; es wird oft genug 3 Uhr morgens.
“Martha ist eine Nachteule”, sagt Piccardi, “Sie übt manchmal gern gleich nach
einem Konzert und bereitet das nächste vor.” Argerich legt nur kurze Verschnaufpausen
ein, zum Beispiel um ab und zu eine Zigarette mit einem ihrer Musiker Kollegen zu
rauchen und zu plaudern.
Bekannt
dafür, dass sie sich nie ausreichend vorbereitet fühlt, hat Argerich vor
Auftritten häufig Lampenfieber. Dieses Jahr war es Tchaikovskys Concerto No.1,
das sie nervös machte, und das obwohl ihre Interpretation aus dem Jahr 1994
unter dem legendären Claudio Abbado als Massstab für dieses Werk gilt.
Trotzdem: Vor ihrem Auftritt im Luganer Palazzo Dei Congressi, wo sie mit dem
Orchestra Della Svizzera Italiana unter Alexander Vedernikov auftrat, meldete
sich wieder einmal die Bühnenangst.
Der
Gemütszustand der Pianistin mag die Teilnehmer und Besucher des Festivals
bewegen, doch Piccardi nimmt an diesen Spekulationen nicht teil. Er vertraut
lieber bewährten Rezepturen, wie dem alten Künstlerhaus, das die
Künstlerstiftung Pro Helvetia Martha Argerich für die Dauer des Festivals zur
Verfügung gestellt hat, und in dem sie sich wohlfühlt. Nur wenige Schritte von
Piccardis eigenem Haus entfernt, vermittelt das Haus die zeitlose Atmosphäre eines
Ortes, der sich seit vielen Jahren von der Energie seiner Künstlergäste nährt.
“Martha
ist kein Mensch, der einen Monat lang in einem Hotel wohnen kann; sie braucht
ein familiäres Ambiente; es sind all die kleinen Dinge, die einen Unterschied
machen”, erklärt Piccardi. “Wenn wir mitten in der Nacht zur Casa Pantrova zurückfahren, ist da ein
Gefühl von Zugehörigkeit, von zu Hause ankommen.
Mit Programmen, die die
Interaktion des Klaviers in allen möglichen Formen und mit verschiedenen
Instrumenten zelebrieren – seien es Piano-Duos, Trios, Quartette oder
Quintette, oder mitunter auch mehrere Pianos gleichzeitig – hat sich das
bereits seit 13 Jahren bestehende Festival einen internationalen Namen gemacht.
Fester Bestandteil des vielfältigen Konzertangebots sind Martha Argerichs
Auftritte mit Freunden, Kollegen und jungen Musikern.
“Sie macht
soviel Mut”, sagt die venezuelanische Pianistin Gabriela Montero, deren
internationale Karriere nicht zuletzt durch Argerichs Ermunterung, bei
Auftritten ihr besonderes Improvisationstalent auszuleben, positiv beeinflusst
wurde.
Das
Festival, das an verschiedenen Veranstaltungsorten in und um Lugano
stattfindet, rühmt sich seines unbürokratischen Procederes: hier gibt es keine
Formalien in Form von Bewerbungen, und der sonst übliche Wettbewerb um Zugang
zum Festival fällt gänzlich weg. Martha Argerich ist offen für neue Talente;
ihr musikalischer ‘Inkubator’ ist ein Versuchslabor, das jungen Musikern
erlaubt, mit international anerkannten Künstlern aufzutreten. Mehr noch: das
hohe Mass an Respekt für die Künstler des Festivals bewirkt, dass Kapazitäten
wie der Geiger, Pädagoge und Schauspieler Ivry Gitlis, ebenfalls ein
langjähriger Freund Argerichs, seine Beteiligung am Festival trotz
fortgeschrittenen Alters zwar nicht mehr als Performer, aber durch seine Lehrtätigkeit weiterführt.
“Martha liebt
es, von anderen Künstlern umgeben zu sein, und die eher belastenden Aspekte der
Auftritte, als auch die Freude am gemeinsam Erlebten, mit ihnen zu teilen“, sagt Picardi. Oft sieht
man sie mit Künstlern lachen, oder sich über ihre Schwierigkeiten mit einer
Partitur beschweren. Von jungen Musikern umgeben, scheint die Energie der
73-jährigen Pianistin kein Alter zu kennen.
In letzter
Zeit beunruhigt sie jedoch die Entscheidung einiger Kollegen, nicht mehr
öffentlich aufzutreten.” Im Gegensatz zu Alfred Brendel und Maria Joan Pires,
die ihre Auftrittskarriere an den Nagel gehängt haben und es lieben,
Masterklassen zu geben, ist Martha nicht
am Unterrichten interessiert.
“Martha
muss geradezu auftreten; sie kann ohne Musik nicht leben”, sagt Piccardi, und
fügt hinzu: ”Kammermusik ist ihr Lebenselixier.” Wer Argerich spielen sieht und
hört, wie zum Beispiel im eleganten Grand Hotel Villa Castagnola, oder
beobachtet, wie sie im Kreis junger Künstler auf ihren Auftritt wartet, weiss
wovon Piccardi spricht. Und in all den Jahren ihrer langen Karriere hat sie
nichts von ihrem meisterlichen Spiel verloren. Es ist immer noch eine
wunderbare Erfahrung dabei zu sein, wenn sie ihr Piano mit Leib und Seele zum
Erklingen bringt.
Künstler
aller Herren Länder kommen jedes Jahr in Lugano zusammen, aber neben
gemeinsamer musikalischer Aktivitaten ist es vor allem der persönliche Kontakt
zu Argerich, der für viele von Bedeutung ist. Der gemeinsame Nenner der
Freundschaften, die über die langen Jahre Argerichs internationaler Konzertkarriere
hinweg entstanden, ist oftmals Argerichs Fähigkeit, ihren Platz im Rampenlicht
mit anderen Künstlern zu teilen und diese zu unterstützen. So hat das Festival
auch seine familiären Aspekte, und kann vor allem für Musiker zu Beginn ihrer
Laufbahn Wunder wirken: Foto: Andrej Grilc
“Am Festival teilzunehmen kann dich wirklich vorwärts
bringen”, sagt Nora Romanoff, eine junge Musikerin, die seit ihrem 16.
Lebensjahr am Festival teilnimmt. Die Tochter der berühmten Geigerin Dora
Schwarzberg hatte ihren sprichwörtlichen Sprung ins kalte Wasser, als das
Festival in seinen frühen Tagen eine zusätzliche Bratschistin suchte. “Kann sie
es schaffen?”, hatte Argerich Dora
Schwarzberg gefragt, mit dem Ergebnis, dass Nora ohne jegliche Vorerfahrung in
Sachen Kammermusik zur jüngsten Musikerin des Festivals wurde.
Misha Maisky und Martha Argerich
Martha
Argerichs musikalischer Partner und langjähriger Freund, Cellist Misha Maisky,
bringt seine beiden Kinder - Pianistin Lily und Geiger-Sohn Sasha - regelmässig
zum Festival, um sie vom ‘learning by doing’-Prinzip des Festivals profitieren
zu lassen. Und die Pianistin Lilya Zilberstein, ebenfalls eine langjährige
Weggefährtin Argerichs, tritt nun mit ihrer ehemaligen Schülerin Akane Sakai
sowie ihren beiden Pianistensöhnen Anton
und Daniel Gerzenberg auf.
Annie Dutoit, Argerichs
mittlere Tochter aus ihrer Ehe mit dem Dirigenten Charles Dutoit, gab beim
diesjährigen Festival mit ihrer Adaption des Textes von C.F. Ramus zu Igor
Stravinskys L’histoire du soldat ihr
Schauspieldebut. Auch Bratschistin Lyda Chen, Argerichs älteste Tochter aus ihrer ersten Ehe mit
Dirigent Robert Chen, nimmt regelmässig am Festival teil, oft als Partnerin bei
den Auftritten ihrer Mutter.
Argerichs
jüngste Tochter Stephanie stellte beim Festival 2013 den von ihr produzierten
Film Bloody Daughter vor; der
Dokumentarfilm gewährt intime Einblicke in das Leben ihrer eher zurückgezogen
lebenden Mutter. Der Titel des Films spielt auf die Spannungen im Familienleben
des Piano-Superstars an, aber – wie Stephanies Vater, der Pianist Stephen
Kovacevich im Film erklaert - ist Stephanie’s Spitzname “bloody daughter” eher
liebevoll gedacht. Was der Film leistet ist, dass er die rein menschliche Seite
der grossen Pianistin vorzustellen weiss. (Foto: Ausschnitt des Films)
“Martha
mochte den Film, und obwohl sie ihre Privatsphäre sehr schützt und es ein
bisschen unheimlich sein muss, derart persönlich porträtiert zu werden, hätte
der Film doch von niemand anderem als ihrer Tochter gemacht werden können”,
kommentiert Piccardi.
Keiner der
Gäste verlässt das Festival ohne eine Verabschiedung von Argerich. Egal in
welcher Sprache – die Pianistin spricht fliessend Italienisch, Englisch, Spanisch,
Französisch und auch ziemlich
gut Deutsch – der Ton ist immer sehr persönlich und engagiert.
Seit 2002
bringt EMI unter dem Titel “Martha Argerich & Friends: Live from Lugano”
eine Reihe von Aufnahmen heraus, die über Warner Classics vertrieben werden.
Unter dem Titel “Martha Argerich: Lugano Concertos” veröffentlichte die
Deutsche Grammophon ein 4-CD-Album, das die erste Dekade des Festivals mit dem
Orchestra della Svizzeria Italiana vorstellt. Das Album wurde letztes Jahr mit
dem Echo Klassik-Preis ausgezeichnet.
Ohne
Rücksicht auf ihr Prestige wurden alle Künstler von Anfang an gleich und pro
gespieltem Konzert bezahlt. “Wenn sie mehr verdienen wollen, müssen sie mehr
Konzerte spielen. Egal ob sie einen grossen Namen haben oder nicht – jeder
Musiker tut hier das Seine”, sagt Piccardi.
“Zu Anfang des Festivals ging es wirklich
hauptsächlich um die künstlerische Grossfamilie, aber mit der Entwicklung des Festivals
wuchsen auch die Egos, Fragen wie ‘wer spielt mit wem’ kamen auf den Plan, und
Wettbewerbsdenken machte sich breit“, meint Piccardi. “Meine Rolle ist es, alles im Sinne der
ursprünglichen Idee von Aufgeschlossenheit zu organisieren, Musik im Zentrum
der Aufmerksamkeit zu belassen und ein anspruchsvolles Programm auf die Beine
zu stellen.”
Das sollte
Martha Argerich und Carlo Piccardi auch in Zukunft gelingen.
Das
14. Progetto Martha Argerich-Festival findet
voraussichtlich wieder im Juni 2015 in
Lugano statt.